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Die Selbstoptimierungs-Falle

Oder: Das Wesen der konstruktiven Persönlichkeitsentwicklung

 

Der Hype: Selbstoptimierung

„Ich habe das Gefühl, dass momentan irgendwie jeder einen Coach braucht.“
„Was soll das Ganze überhaupt?“
„Geht es nicht darum, sich einfach so annehmen zu können wie man ist?“

Kennen Sie diese Gedanken auch?
Wenn ja: gut so!
Denn dann haben Sie sich das nötige Gespür bewahrt, um nicht in die Selbstoptimierungs-Falle zu tappen.

Das Thema Persönlichkeitsentwicklung erfährt gerade einen regelrechten Hype.
An allen Ecken scheinen neue Coachs und Ratgeber aus dem Nichts hervorzusprießen.
„Wenn du beruflich und in deinem Leben weiterkommen willst, musst du möglichst viel an dir arbeiten“, lautet die Devise.
Sich selbst so weit optimieren, bis man gut genug ist.
Aber dieses „gut genug“ scheint nie einzutreten.
Im Gegenteil – manchmal verschlechtert sich das Selbstgefühl sogar noch.

 

Jetzt schauen Sie sich mal diese Frau an!

In einem der letzten Seminare kam in der Pause eine Frau auf mich zu.
Sie hat mir Folgendes erzählt:

„Ich durchlaufe gerade ein Coaching mit einer Beraterin und ich fühle mich sehr unwohl dabei. In diesem Coaching geht es um mein Auftreten und die Art und Weise, wie ich präsentiere. Ich muss vor Bürgermeistern und wichtigen Personen unserer Stadt immer wieder Projekte vorstellen. Sie hat mich auf Video aufgenommen und dann haben wir die Aufzeichnung gemeinsam angeschaut. Die Beraterin hat Folgendes gemeint:

„Jetzt schauen Sie sich mal diese Frau an! Würden Sie dieser Frau das abkaufen, was die da erzählt? Sie brauchen ein ganz anderes Auftreten. An Ihren Haaren müssen Sie auch was machen, die sehen viel zu zerzaust aus …“

„Und so ging das weiter. Sie hat nur Fehler an mir gesehen. Es hat sich so abwertend angefühlt. Ich bin jetzt total verunsichert und möchte am liebsten gar nicht mehr öffentlich auftreten …“.
Als sie mir das erzählt hat, war sie den Tränen nahe.

Ich finde so etwas sehr schade.
Diese Frau hat auf mich einen sehr pfiffigen und kreativen Eindruck gemacht. Ihre Haare passten genau zu ihrer Persönlichkeit. Was sie meiner Meinung nach gebraucht hätte, wäre eine Unterstreichung ihrer Persönlichkeit gewesen und nicht das Überstülpen eines Ideals, das gar nicht zu ihr passt.

 

Das große Ideal – in weiter Ferne

Im ungünstigsten Fall tappen Menschen dadurch in die Selbstoptimierungs-Falle.

Dabei versucht man, sich immer weiter zu optimieren.
Wodurch das Ideal immer größer und unerreichbarer wird.
Gleichzeitig verringert sich die Fähigkeit der Selbstannahme, gerade weil der Abstand zum Ideal immer größer wird.

Zusätzlich fühlt es sich so an, als würde man sich immer wieder durch eine versteckte Hintertür sagen: „Siehst du, du bist noch nicht in Ordnung so wie du bist. Ansonsten bräuchtest du doch kein Coaching oder eine Weiterbildung!“

Sich weiterentwickeln zu müssen, kann zu einer Selbstabwertung führen.

Das ist im Übrigen oftmals der Hauptgrund, warum manche Mitarbeiter in einem Seminar einen inneren und gesunden Widerstand verspüren. „Warum sollte ich mich weiterentwickeln müssen, ich bin doch so in Ordnung, wie ich bin!“ Oder wenn der Vorgesetzte ein Seminar angeordnet hat: „Mein Chef hat mich geschickt, der glaubt, ich brauche ein Kommunikationstraining!“

Einerseits ist es gut, sich weiterentwickeln zu wollen und andererseits ist es gut, sich so anzunehmen, wie man ist.

Aber ist das nicht ein Widerspruch? Entweder ich nehme mich so an, wie ich bin, oder ich möchte mich weiterentwickeln. Beides geht doch gar nicht, das widerspricht sich doch. Wenn ich mich weiterentwickeln will, besteht dann nicht die Gefahr, dass ich mir wieder durch die Hintertür sage, ich sei nicht in Ordnung, so wie ich bin?

Beißt sich das nicht: sich annehmen und sich weiterentwickeln wollen?

Nein, es muss sich nicht beißen.

Der bewusste Umgang ist entscheidend.

 

Persönlichkeitsentwicklung als lebendiger Prozess

Es kann Phasen geben, in denen es darum geht, sich bewusst Entwicklungsziele zu setzen, um vorwärts zu kommen. Und dabei kann eine andere Person sehr hilfreich sein. Und es kann Phasen geben, in denen es wichtig ist, sich mal so sein zu lassen, wie man ist. In denen es auch keinen Coach braucht. Der dynamische Wechsel ist entscheidend.

Und vor allem kommt es darauf an, wie man an sich arbeitet. Die Grundhaltung ist dabei wichtig. Es macht einen großen Unterschied aus, ob Entwicklung aus einem Grundgefühl des Nichtausreichens geschieht, oder auf der Grundlage von Selbstannahme.
Weiterhin ist es wichtig, Übertreibungen frühzeitig zu erkennen.
Es spricht nichts gegen das Bedürfnis, sich weiterentwickeln zu wollen. Problematisch wird es nur dann, wenn dieses Bedürfnis übertrieben wird. Dann wird daraus eine zwanghafte Form mit hinderlichem Charakter. Genauso kann man es mit der Selbstannahme übertreiben. Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber kann die Folge sein.

 

Orientierung mit dem Dynamik-Quadrat

Am besten lässt sich der gesamte Zusammenhang mit dem Wertequadrat von Schulz von Thun veranschaulichen. Ich nenne es das Dynamik-Quadrat, weil es um einen dynamischen Wechsel zwischen den Werten geht.

Zu sehen sind vier Felder.
Im oberen Bereich sind jeweils zwei Felder, in denen sich die positiven Werte befinden.
Im unteren Bereich befinden sich zwei Felder mit negativen Übertreibungen.
Zwischen den positiven Feldern herrscht ein positives Spannungsverhältnis.

In Feld eins befindet sich der positive Wert: Selbstannahme.
In Feld zwei befindet sich der positive Wert: Entwicklungswille.

Finden beide positiven Werte in einem angemessenen Wechsel statt, entsteht eine konstruktive Form der Persönlichkeitsentwicklung.Wird ein Wert übertrieben, kommt es zu den destruktiven Formen der Persönlichkeitsentwicklung.
Aus einem gesunden Entwicklungswillen wird ein Selbstoptimierungs-Zwang mit persönlicher Abwertung.
Und aus einer gesunden Selbstannahme wird eine übertriebene Gleichgültigkeit, die zu Stagnation führt.

Um einen dynamischen Ausgleich zu schaffen, kann eine Entwicklungsrichtung z.B. darin bestehen, etwas Bestimmtes zu tun oder auch zu lassen, was wieder in den positiven und konstruktiven Bereich führt.

Bei einem Selbstoptimierungs-Zwang kann es gut tun, sich wieder mehr so sein zu lassen wie man ist, indem man z.B. wieder mehr zu seinen Fehlern steht. Und bei übertriebener Gleichgültigkeit kann eine motivierende Lektüre wieder mehr Lust auf Weiterentwicklung machen.

 

Was sie gebraucht hätte …

Die verunsicherte Frau aus dem Seminarbeispiel wollte sich weiterentwickeln. Sie hatte sich sogar auf das Coaching gefreut. Anstatt mit übergroßen Idealvorstellungen zu beginnen, wäre die Bewusstmachung der vorhandenen Kompetenzen gut gewesen. Beispielfragen hätten sein können:

Was finden Sie: Was machen Sie bereits gut?
Was gefällt Ihnen besonders?
Was könnten Sie noch mehr unterstreichen, was Sie persönlich ausmacht?

Dadurch hätte sie ein besseres Gespür für sich selbst bekommen und verstanden, dass sie bereits gut genug ist. Auf dieser Grundlage, einem guten Selbstgefühl, hätte man in einem zweiten Schritt fragen können:

Was machen Sie Ihrer Meinung nach noch nicht so gut?
Was gefällt Ihnen weniger?
Woran könnten Sie noch feilen?

Dadurch wäre es ihr leichter gefallen, sich für Entwicklungsmöglichkeiten zu öffnen und sich dementsprechend weiterzuentwickeln.

Konstruktive Persönlichkeitsentwicklung folgt dem Grundsatz:
„Zu sein, wer man ist und werden zu dürfen, wozu man fähig ist!“

In einer Kultur der Optimierung

Wir befinden uns in einer Leistungsgesellschaft.
Gegen Leistungsstreben ist grundsätzlich nichts einzuwenden.
Performance kann sogar richtig Spaß machen.

Wenn es um die persönliche Entwicklung geht, sieht die Sachlage etwas anders aus.
Echte Persönlichkeitsentwicklung braucht Zeit.
Zeit, Erfahrungen zu sammeln. Zeit, zu reflektieren. Zeit, zu sich zu finden.
Unter überhöhtem Leistungsdruck ist eine stimmige Persönlichkeitsentwicklung zum Scheitern verurteilt.

Maschinen lassen sich schnell optimieren, indem man die Einzelteile justiert und die Schräubchen festdreht. Das menschliche Selbst dagegen braucht Raum zur Entwicklung.

In unserer westlichen Kultur ist die Forderung nach Entwicklung und Wachstum stärker als die Erlaubnis, so sein zu dürfen wie man ist. Deswegen kann man davon ausgehen, dass die Selbstoptimierungs-Falle immer wieder mal unbemerkt zuschnappen wird. Der Pol Selbstannahme sollte als Basis gesehen werden. Es ist wichtig, immer wieder zur Erkenntnis und Einsicht zurückzukehren, dass man grundsätzlich in Ordnung ist, so wie man ist – mit allen Defiziten und Kompetenzen.

Und ein Coach sollte durch bestimmte Kommunikationsformen und Interventionen dabei unterstützen. Nicht nur ein Coach sollte das tun, sondern auch Führungskräfte, Lehrer oder Eltern.

Fazit:

Konstruktive Formen der Persönlichkeitsentwicklung basieren auf dem Fundament der Selbstannahme. Schädliche Formen der Persönlichkeitsentwicklung dagegen, verstärken das Gefühl, nie auszureichen und führen in die Selbstoptimierungs-Falle. Wenn ein angemessener Wechsel zwischen Selbstannahme und Entwicklungswille stattfindet, kann Persönlichkeitsentwicklung stimmig gelingen. Nicht nur das: Sie kann sogar Freude bereiten!

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